Schöpfungsaugenblicke

Früh, sehr früh am Morgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen den Garten berühren und den Morgentau zum Glitzern bringen, wenn sich in jedem Tropfen die Welt spiegelt, dann streife ich durch meinen Garten. Es ist mir die liebste Zeit. Es ist fast so, als würde ich Neuland betreten. Als würde ich das aller erste Mal durch diese Traumwelt wandeln. Mein Garten ist ein ehemaliger Park, ich habe schon als Kind darin gespielt und seine Schönheit bewundert. Es ist nun gute 15 Jahre her, dass er durch eine göttliche Fügung mein Eigen wurde. Unter der Woche lebe und arbeite ich 200 km davon entfernt und so sind es die Wochenenden, an denen er mich voll und ganz in seinen Besitz nimmt. Es gibt immer sehr viel zu tun. Gerade deshalb genieße ich diese Morgenstunden, wo ich ohne Baumschere, Rechen oder sonstiges Werkzeug, nur mit meiner Kamera in der Hand, in seine Magie eintauche.

Derzeit sind es die Pfingstrosen, Magnolien und andere Ziergehölze und Sträucher, die voll in Blüte stehen. Die Vielfalt auf diesen 3000 Quadratmetern ist unglaublich. Aber auch außerhalb meines Gartens ist die Welt am Blühen. Diese Jahreszeit ist so voll von Zuversicht und Reichtum, dass es wohl auch auf unser Gemüt abfärbt.

Die Schöpfung zeigt in so kurzer Zeit, wozu sie fähig ist. Jeden Augenblick öffnet sich irgendwo eine Knospe, erblüht eine Pracht. Da stellt sich dem Beobachter gerne die Frage des Warum? Warum diese Vielfalt, warum diese schier nicht enden wollenden Gestaltungsformen, Farben und Düfte? Woher dieser ungebrochene Schöpfungswille? Diese Schönheit, die keine Grenzen kennt, breitet sich vor unseren Augen aus, als gebe es kein Morgen. Das nenne ich Optimismus!

Hinter dieser Schönheit steckt kein wirtschaftlicher, technologischer oder biologischer Nutzen. Dieser Reichtum ist das Wertvollste, was unsere Erde besitzt.

Bei jeder Entdeckungsreise durch meinen Garten wird mir das immer wieder bewusst. Der Duft eines Seidelbastes steigt mir in die Nase und die nuancenreiche Palette dieses Duftes hat eine solche Tiefe und Weite, dass man es kaum in Worte fassen kann. Die Weichheit einer Pulsatillablüte, die wachsartige Beschaffenheit einer Magnolienblüte oder die Fülle und Zartheit einer Pfingstrosenblüte, wie könnte man das beschreiben?

Und wenn wir dann noch genauer hinsehen, uns vielleicht auf allen Vieren einer Beinwellblüte nähern und im Detail ihre Spirale erkennen können, dann wird uns klar vor Augen geführt, dass im Detail die größte Vielfalt verborgen liegt.

Mein Blick fällt auf eine Aquilegia (lat. wassertragend), auf ihren Blättern balanciert der Morgentau. Was für ein Moment, welch ein kostbarer Augenblick. Beim Betrachten dieser Pflanzenschönheiten empfinde ich so etwas wie eine Ausgewogenheit von Sein. Es ist fast so, als würde mir das eine oder andere Geheimnis entgegenlächeln. Die Momente des Erschauens holen mich in eine inspirierende Gegenwart.

Diese Schöpfungsmomente sind es, die mich vor Jahren zur Pflanzen-Fotografie geführt haben. Der Mensch möchte einfach Dinge – besonders Vergängliche -festhalten, und das ist wohl auch meine treibende Kraft.

Ich glaube die größte Herausforderung für uns Menschenkinder ist es, Zeit und Muße zu finden, diese Schönheit und Vielfalt im Detail wahrzunehmen.
Da muss man sich schon auf Augenhöhe mit der Natur begeben. Den Pflanzenkindern auch mal auf den Knien entgegenkommen, zu riechen, zu berühren, vielleicht auch zu kosten, und vor allem still zu betrachten. Denn das stille und unvoreingenommene Betrachten öffnet unsere Wahrnehmung, schärft die Sinne.

Und immer wieder stellt sich dann die Frage, warum? Warum dieser verschwenderische Aufwand an Schönheit?

Überall auf der Welt empfindet der Mensch fast dasselbe als schön. Schönheit ist Harmonie, der Goldene Schnitt gibt dafür die Maße vor. Ein Empfinden von Harmonie ist uns allen angeboren, der Mensch selbst ist nach dem Goldenen Schnitt gebaut. Natürliche Farben und Formen würden niemals diese Harmonie stören. 
Ich glaube, diese Schönheit ist dazu da, um gesehen zu werden, unser Herz zu erfreuen und um uns zu inspirieren, es ihr gleich zu tun.
Diese Schönheit ist es auch, die ein Künstler, ein Philosoph versucht einzufangen. In Bildern, Worten und Gestaltungen. Ich persönlich versuche es mit dem einen oder anderen Foto und freue mich, wenn ich damit andere Augen und Herzen berühren kann.
Die Augen, vielmehr das Augenlicht gehört dem Feuerelement an. Wir sehen nur so gut, wie unser Feuer ist. Gleichzeitig ist dem Feuer auch das Herz als Organ zugeordnet. Das, was wir über unser Augenlicht wahrnehmen, geht direkt in unser Herz, wo es entweder nährend oder zehrend sein kann.

Es ist auch genau diese Schönheit, die heilend wirken kann, auf körperlicher sowie emotionaler Ebene. Ein krankes Lebewesen gesundet nicht in einer künstlichen Disharmonie. Harmonie ist eine Art Gleichgewicht, ein Zustand von Glück und Vollkommenheit. Die Natur, das Schöpfungsspiel, lädt uns jeden Moment dazu ein, genauer hinzusehen und diese Harmonie in allen Dingen der Natur zu erkennen.
Die einen nennen es den göttlichen Funken, die anderen geben diesem Funken einen Namen.

Durch das Betrachten schärfen wir unsere Sinne und werden dadurch selbst ein Teil dieser Umgebung. Das Spiel von Schatten und Licht, die unterschiedlichen Empfindungen z.B. gegenüber dem frühen Morgen oder dem späten Nachmittagslicht, all das lässt uns das Bild mehrdimensional wahrnehmen.

Die Schönheit ist der einzige Luxus, den es um sonst gibt, vorausgesetzt, wir wollen sie wahrnehmen.
Entziehen wir unsere Aufmerksamkeit dieser Fülle, kann und wird sie dadurch ärmer. Nur das, was erkannt, gesehen und wertgeschätzt wird, hat auf Dauer Bestand. Es ist unsere Aufgabe, als Beschenkter, als Betrachter, dieses Geschenk dankbar anzunehmen. Aufmerksamkeit, die ich etwas oder jemandem schenke, nährt und belebt diesen. Artensterben z.B. hat auch mit Ignoranz zu tun. Dort, wo kein „Licht“ mehr hinfällt, dort erlischt das Leben. Das Aufkommen von einem krankhaften Kunst- und Kulturverständnis könnte durch das Vorbild natürlicher Harmonien und Schönheiten gemindert werden. Natürlichkeit ist Schönheit.

Auch wir als Geschöpfe sind ein Teil von dieser Kreation. Schöpfung ist das, was von selbst, aus sich heraus, zu jeder Zeit passiert, sie ist allgegenwärtig. Der Schöpfungswille ist unermüdlich scheint es, und er entspringt einer Idee, wem oder was auch immer diese Idee entsprungen sein mag. Alles – Stein, Blume, Tier und Mensch – ist ein Schöpfungsgedanke, entstanden aus dem Schöpfungswillen. Schöpfungskraft besitzen auch unsere Gedanken, es liegt an uns, ob wir sie konstruktiv oder destruktiv färben.

Ein gewisses Vertrauen des Menschen in den Weg der Schöpfung ist wichtig, denn ohne dieses Urvertrauen schwächen wir unsere Basis, unser Erdelement. Unruhe, Schlaflosigkeit, Angststörungen und Immunschwäche sind oft ein Zeichen dafür.

Der Tag geht dem Ende zu, die Sonne steht schon sehr tief, jetzt gibt es wieder ein besonders magisches Licht. Der Raum einer Löwenzahnblüte öffnet sich. Die unendliche Tiefe einer Daturablüte zieht ihren Betrachter in den Bann, und die Symmetrie einer Hauswurz wird durch das Spiel der Schatten verstärkt.

Karl Blossfeldt war ein begnadeter Fotograf, er zeigte durch seine Aufnahmen die unendlichen Gesichter unserer Pflanzenkinder.

Lustwandeln wir durch die Schöpfungsvielfalt, halten wir inne, wenn uns etwas anspricht. Wundern und staunen wir wie Kinder, die die Welt für sich entdecken, und lassen wir unser Herz berühren. Orientieren wir uns an dieser Schönheit und tun wir es ihr gleich.

Der größte Beitrag, den ein Erdenbewohner als Gast auf dieser Schöpfungsinsel leisten kann, ist Dankbarkeit und Wertschätzung diesen Schönheiten gegenüber. Ein österreichischer Schriftsteller hat das sehr gut in Worte fassen können.
Hans Sterneder in „Der Sonnenbruder“ und „Der Wunderapostel“, beides Bücher, die von diesen Naturbetrachtungen erzählen und das Ganze in eine magische Geschichte verpacken. Er spricht davon, dass der Sinn des Lebens darin liegt, sich an diesen Schönheiten zu erfreuen.
„Aufs Genießen, aufs dankbare Hinnehmen und Würdigen dessen, was die Schöpfung in ihrer Vielfalt bieten kann, darauf kommt es an.“
Ehrfurcht und Hingabe(- nicht Selbstaufgabe), mit einer Bewußtheit leben. Von den Tugenden, die Paracelsus nannte, geleitet, die Wahrheit und Reinheit der Natur als Vorbild nehmend.

Sollte es wirklich so einfach sein? Muss ich denn immer wissen wofür, wozu etwas zu gebrauchen ist? Muss ich jedes Pflänzchen bei seinem botanischen Namen rufen können? Braucht jede Existenz eine materiell-wirtschaftliche Daseinsberechtigung? Und sind wir nicht auch ein Teil dieser Schöpfungsidee, d.h. haben wir dann nicht auch dieselbe Aufgabe?

Der Weise sagt: „Wenn du alt werden willst, umgib dich mit schönen Dingen“.

Der Schöpfung und ihrer mannigfaltigen Ideen sei Dank! Wir sind von einem Reichtum umgeben und es liegt im Auge des Betrachters, diesen zu erkennen, denn Werte entstehen erst durch Wertschätzung.

(Dieser Artikel ist in der Juniausgabe „Heilspiegel“ von Horst Krohne erschienen)

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3 Gedanken zu „Schöpfungsaugenblicke

  1. Morgens schlich ich in den Garten und pflückte heimlich eine Rose.
    Voller Furcht sah ich den Gärtner nahen, doch voll Freude vernahm ich seine Worte:
    „Was soll die eine Rose? Ich schenke dir den ganzen Garten.“ Rumi

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