Ich bin gerade erst aus Indien zurückgekommen und möchte gerne eine wundersame Geschichte davon erzählen.
Dieses Land hat seine schönen und weniger schönen Seiten, darüber gibt es nichts zu diskutieren. Ich habe nachgerechnet, es müsste mein 26. Mal gewesen sein (in den letzten 30 Jahren), dass ich Indien besucht und bereist habe. Immer wieder und immer noch berührt es mein Herz und zeigt sich von seiner bezaubernden Seite.
Es sind weniger die Sehenswürdigkeiten, die mich anziehen, als vielmehr die unglaublichen Alltagserlebnisse und Geschichten, die es für mich so einzigartig machen.
Nun aber reisen wir nach Kalkutta, dem ehemaligen Regierungssitz der Ostindien-Kompanie und Hauptstadt von Britisch Indien (bis 1911).
Diese quirlige, vor Leben vibrierende Stadt hat ihren Namen von dem ehemaligen Fischerdorf Kalikata übernommen, das hier an den Ufern des Ganges lag, der hier Hooghly (oder auch Muri Ganga) genannt wird. Es mag so viel wie “Tor der Göttin Kali” heißen.
Ich erwähne das deshalb, weil es sich hier in dieser Millionenstadt, abgesehen vom nackten Überleben, hauptsächlich um die Göttin Kali dreht. Kala ist die Zeit und je nach Betonung bedeutet es auch Schwarz. Kali ist also eine schwarze und kriegerische Göttin. Sie wird mit herausgestreckter roter Zunge dargestellt und ist mit ihren vielen Armen, die Waffen tragen, und einer Kette aus abgetrennten Köpfen um den Hals, auch für den Laien leicht zu erkennen. Ihre blutrünstigen Darstellungen prägen sich bei nicht Hindus leicht ein.
In Kalkutta oder Kolkata, wie die Stadt jetzt wieder heißt, gibt es natürlich auch einen alten Kali Tempel, der ein bisschen wie der Wiener Stephansdom das Wahrzeichen dieser pulsierenden Metropole darstellt.
Will man diesen Ort besuchen, empfiehlt es sich, sehr früh am Morgen, bereits um 6 Uhr, aufzustehen, denn die Warteschlangen vor den Toren werden von Minute zu Minute länger und es kann mitunter Stunden dauern bis man den Kampf beim Anstellen gewonnen hat und endlich über die Schwelle treten kann.
Im Tempel finden durchgehend Tieropfer statt, und das war bis jetzt auch immer der Grund, warum ich nicht dorthin gehen wollte.
Ich war jedoch nun zum zweiten Mal in dieser Stadt und meine liebe Reisekollegin Alex wollte unbedingt dorthin gehen.
Wir gingen also am Abend früher zu Bett, versuchten auf dem Brett von einer Matratze einen erholsamen Schlaf zu finden, um möglichst früh am nächsten Morgen aufzubrechen. Die Moskitos sangen uns in den Schlaf und die Geräusche einer niemals ruhenden Stadt weckten uns in den frühen Morgenstunden.
An diesem Punkt beginnt die Geschichte, sich nun auszubreiten.
Alex erwachte mit einer bösen Migräne und war absolut nicht fähig aufzustehen. Sie wollte nach einer Schmerztablette und einer weiteren Stunde Schlaf soweit sein.
Es war bereits gegen Neun, als wir unsere Unterkunft verließen, eigentlich viel zu spät für einen Besuch im Tempel. Wir wollten uns ein Taxi nehmen, einen dieser typischen gelben Ambassador, welche wohl schon die ersten Engländer transportiert hatten. Die Fahrer sind jedoch ein spezieller Menschenschlag, haben für uns Touristen unverschämte Tarife, und dazu kommt, dass es prinzipiell nicht einfach ist, ein freies Taxi zu finden.
Wir treten also auf die Straße und stehen gleich Mitten im brausenden Verkehr, da fährt mir ein öffentlicher Stadtbus geradewegs vor die Füße und ich rufe dem Ticketverkäufer, der auf den Stufen seines Busses steht und laut kundtut, wohin der Bus fährt, fragend zu: “Kalighat Tempel?”
Ein kurzes Nicken und eine rasche Handbewegung signalisieren uns ein „Ja“ und treiben uns zur Eile. Alex springt hinter mir noch im Losfahren auf, und man weist uns einen Sitzplatz ganz hinten in der letzten Reihe zu. Das war geschafft! Die Fahrt würde gut 45 Minuten dauern, und wir versuchten es uns in der holprigen Klapperkiste so bequem wie möglich zu machen. Schlaglöcher hoben uns immer wieder so weit aus dem Sitz heraus, dass wir uns beinahe oben an der Decke den Kopf schlugen.
Der Bus füllte und leerte sich einmal mehr, einmal weniger. Irgendwann gegen Ende der Fahrt stieg eine kleine ältere Frau ein, sie hatte einen sehr untypischen schwarzen Sweater an, dessen Kapuze über den Kopf gezogen war und dazu auffällig rote Lippen. Ich sagte so halb im Spaß zu Alex: “Diese Frau fährt sicher auch zum Tempel, sie hat Blüten in einer Tasche bei sich, da können wir uns gleich hinten anhängen”
Bald schon rief uns der Busfahrer zu, dass wir nun aussteigen müssten, hier sei die Station, die dem Kali Tempel am nächsten ist.
Aus dem rollenden Bus springend, folgte uns auch die schwarze Frau. Zielstrebig ging sie zum nächsten kleinen Blumenverkäufer. Wir standen noch etwas unschlüssig an der brausenden Straße und wussten nicht so recht wohin. Tempel war keiner zu sehen, nur viele kleine Gassen und Schuttberge.
Wir schauten uns um, wen sollten wir fragen, außer dieser schwarzen Frau war hier nicht wirklich jemand. Wir traten also zu ihr, kauften selbst ein paar Blumen und fragten höflich ob sie uns den Weg, bzw. die Richtung zum Tempel sagen könnte.
Durch schwarz eingefasste Brillengläser lugten freundliche Augen und es stellte sich heraus, dass wir mit unserer Vermutung richtig lagen: sie war selbst auf dem Weg zum Kali Tempel. Ihr Englisch war so gut wie mein Hindi, und so machten wir uns, Gesten zur Hilfe nehmend, plaudernd Richtung Tempel auf den Weg. Die Bauarbeiten in dieser Gegend würden für Ortsunkundige das Weiterkommen schwierig gestalten, unsere schwarze Frau führte uns jedoch zielstrebig nicht nur zum Tempel, sondern auch zu einem kleinen Seitenzugang, wo wir ohne weiteres Anstellen, in den Kali Tempel kamen. Darüber waren wir auch sehr dankbar, denn die Menschenmenge vor den offiziellen Zugängen war, wie zu erwarten, groß.
Das Weitere ging dann sehr schnell. Die Schuhe abgebend, Blumen bereit haltend folgten wir der Frau Richtung Allerheiligstes. Ein ziemliches Gedränge, bei dem es mit Schubsen und Stößen nicht gerade zimperlich zuging, ließ uns innehalten. Sie bot uns an, ihr und ihrem Priester vor Ort, den ihre Familie schon seit Generationen besuchte, zu folgen. Vorbei an der Schlachtkammer, wo just ein Geißlein geopfert wurde und dem Bereich gegenüber, wo das Tier dann zerteilt und sein Fleisch später zum Verzehr angeboten bzw. verkauft werden wird, bis hin zur Kali Statue, die in einem engen Raum, ganz in Gold, hinter einer Absperrung stand.
Wir drängten uns mit ihr und mit der Hilfe des Priesters hinein, warfen vielmehr unsere Blumen, als sie bedächtig zu offerieren, bekamen einen roten Punkt auf die Stirn und ein Prasad ( Süßspeise als Opfergabe) und wurden wieder auf der anderen Seite hinausgedrängt.
Etwas bewegt von den Tieropfern und der Hektik im Tempel standen wir noch an der Mauer und beobachteten das Treiben. Die schwarze Frau war bei dem Gedränge aus unserem Blickfeld verschwunden.
Irgendwann fand uns der Priester, welcher von unserer Freundin beauftragt worden war, uns zu suchen, und führte uns zurück zu unseren Schuhen, wo auch Sie auf uns wartete.
Heute war Neumond, also die dunkelste Nacht des Monats, und ein besonderer Tag, um die dunkle Kali in ihrem Tempel zu besuchen. Die Schlange beim Eingang war lang und das Gedränge dort ziemlich lebendig. Es ist komisch, der Inder kann sehr geduldig sein, hat oft alle Zeit der Welt, aber wenn es irgendwo ans Anstehen geht, werden sie alle zu Getriebenen. Sie schieben, schubsen und drängeln hemmungslos, als gäbe es kein Morgen.
Zusammen mit unserer schwarzen Frau machten wir uns auf dem Weg aus dem Tempel zurück zu der Stelle an der Straße, wo man gut Busse aufhalten konnte. Bushaltestellen, so wie wir sie kennen, gibt es zwar auch, aber es ist üblich, Busse herbeizuwinken, bzw. gibt es bestimmte unmarkierte Stellen, wo Busse anhalten. Diese ausfindig zu machen bleibt für uns Fremde allerdings ein Mysterium.
Wir erklärten unserer Frau, dass wir im Idealfall mit einem Bus zum botanischen Garten auf der anderen Seite des Hooghly Rivers fahren möchten, aber keine Ahnung hätten, ob das von hier aus überhaupt direkt möglich sei.
Nach kurzem Überlegen meinte sie, es wäre da schon ein Bus, der aber nicht regelmäßig komme und nur stehen bleibe, wenn wir ihn heranwinken würden. Was soweit kein Problem wäre. Ich kann zwar Hindi lesen, jedoch nicht Bengali, und die Busse sind in Kolkata alle in dieser Schrift angeschrieben.
Über das Dröhnen des Verkehrs hinweg bedeutete sie uns, ihr zu warten. So standen wir also da, spähten in die Richtung, woher der besagte Bus kommen sollte und freuten uns über ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft, denn die Sonne brannte bereits vom Himmel und es war alles andere als selbstverständlich, dass sie hier, mit uns, auf diesen Bus wartete.
Wir hatten aber, wie nicht zum ersten Mal an diesem Tag, Glück. Schon nach ein paar Minuten deutete sie auf einen heranrasenden Bus, der sich gerade aus dem Chaos einer zweispurigen Fahrbahn näherte, die Vielspurig befahren wird. Jetzt musste der Abschied und das danke Sagen schnell gehen. Schon trat sie auf die Straße, holte den Bus aus voller Fahrt herunter, und wir sprangen in die alte Klapperkiste.
Die schwarze Frau, wir nennen sie liebevoll “unsere Kali”, stand noch winkend auf der Straße, als die Stadt uns bereits wieder in sich hinein zog und der Verkehr uns verschluckte.
In Indien erzählt man sich, dass sich manchmal vor den Tempeln die Götter selbst aufhalten. Sie helfen den Einen und prüfen den Anderen in Gestalt einer alltäglichen Begegnung.
Unser Besuch, so mag es scheinen, war von Anfang an durch Umstände wie Migräne am Morgen, die die Abfahrt verzögerten und glücklichen Zufälle gelenkt und geleitet worden.
Wie wunderbar, dass zwischen all der Hektik, dem Treiben und dem Kampf ums Überleben in dieser großartigen Stadt die Götter, so scheint es, immer noch zwischen den Zeiten wandeln. Dass uns Kali selbst den Weg in ihr Haus geebnet und von Anfang an begleitet hat, liegt für uns auf der Hand.
Eine Geschichte, die ich immer wieder gerne erzählen werde, denn es gibt sie wirklich, die Wunder im Alltag!
Ein Gedanke zu „Kalkutta und die Begegnung mit der Göttin Kali im Bus “
Ich liebe es, wenn du von deinen Reisen in Indien schreibst , du erzählst sie so hautnah und ich bin voll dabei…..erlebe sie nochmals mit dir….bin ganz begeistert, welchen Schatz du in dir trägst.
Danke fürs Teilen
Buffa