Der Ruf des Lebens!

Die dunklen Tage sind eindeutig vorbei. Tag für Tag bleibt die Sonne ein paar Minuten länger
sichtbar. Auch die Natur ist längst aus ihrem Winterschlaf erwacht. Dort und da hebt sich die Erde,
bricht ein Keimling daraus hervor, öffnen sich Knospen und Blüten und strecken sich sehnsuchtsvoll
dem Äther entgegen.
Natürlich gibt es ab und zu “Rückschläge”, die eine oder andere kalte Nacht, aber der Prozess des
Aufwachens, des Neuwerdens, ist nicht mehr aufzuhalten.
Tier und Mensch, als Teil dieser Natur, bleiben von diesem Frühlingserwachen nicht ausgeschlossen.
Alles scheint plötzlich wieder lebendiger zu werden. Der alte, knorrige Apfelbaum, die Wiesen und
Felder, alles beginnt zu grünen. Wir fühlen uns nicht mehr so müde und träge, der Drang aktiv zu
werden, kommt immer mehr an die Oberfläche.
Das freudige Erwachen belebt unseren Geist und Körper. Die Sinne schärfen sich wieder und streifen
das winterliche Taubheitsgefühl ab.

Was ist das eigentlich für eine geheimnisvolle Kraft, die uns – egal ob alt oder jung – so hinter dem
Ofen hervorlockt?


In der Hermetik nennt man sie die Ios-Kraft, die Aufrichtekraft. Diese unbändige Kraft spielt nicht nur
im Frühling eine Rolle, vielmehr ist es jener Impuls, der unter anderem das Öffnen des Samenkorns,
der Knospen und Blüten bewirkt sowie das Aufbrechen des Erdkörpers durch den sich entfaltenden
Keimling.
Es ist auch jene Kraft, die den Grashalm sich immer wieder aufrichten lässt.
Im übertragenen Sinn ist es der Lebenswille schlecht hin. Der Grund, warum sich der Phönix wieder
aus seiner Asche erhebt.

Es ist der treibende Impuls, der Mut und die Motivation, sich immer wieder der Sonne entgegen zu
strecken, das Leben zu begrüßen und weiter zu wachsen.

Im Garten nützen wir diese Kraft, wenn wir einen Rückschnitt oder Verjüngungsschnitt bei Hecken
oder Sträuchern machen. Dort, wo eine Schnittstelle, eine Verletzung ist, verjüngt sich der Trieb und
teilt sich. Aus einer werden zwei Triebspitzen. Die Verästelung bewirkt eine Stärkung und
Verdichtung im Wuchs und die Pflanze wird dadurch “belastbarer”.
Der Baum selbst trifft bei jeder Astneubildung bzw. Verzweigung eine Entscheidung. Er beschließt
dabei, sich weiter in den Raum hinein zu entfalten.
In der Tierwelt geht diese Neuwerdung oder Regeneration soweit, dass sich wie bei der Eidechse
oder dem Regenwurm, abgetrennte Schwanzspitzen vollkommen erneuern können.

Jede Krankheit trägt in sich das Potenzial ihrer Gesundung. Jeder Körper, jedes Lebewesen, trägt
seine Selbstheilungskraft in sich. Die Ios-Kraft gibt den Impuls dazu. Es ist von Natur aus so
eingerichtet, dass alles wieder gut werden will.


Ob wir hier nun von Dingen sprechen, die ins Arge gekommen sind, wieder heil und gesund werden
wollen, von Verletzungen, Krankheiten oder vom einfachen Vermehrungssinn – hinter all dem steckt
der Überlebenswille. Und dieser gründet wieder in der Aufrichtekraft. Auf unserer Erde gäbe es
schon lange kein Leben mehr ohne sie.

Im Yoga nennen wir es das “Prana”, die Lebensenergie. Sie pulsiert entlang der Wirbelsäule und
breitet sich über unzählige Nadis, die Energiekanäle, im Körper aus.
Im Pranayama, in den Atemübungen, versucht der Yogi diese zu optimieren.
Es ist auch die Kundalini, jene Schlange, die am Ende der Wirbelsäule zusammengerollt schläft.
Bei zunehmender spiritueller Reife erwacht die Kundalini und steigt entlang der Wirbelsäule nach oben, in Richtung Kronenchakra, und verbindet sich mit dem Äther.

Diese geheime Lebenskraft ist es, die uns nach schweren Zeiten, mit körperlichen oder mentalen
Tiefen, mit neuem Lebensmut erfüllt.


In anderen heilkundlichen Traditionen wird die Lebenskraft als Nierenkraft bezeichnet. Jedes
Lebewesen bekommt bei seiner Geburt ein gewisses Maß an Nierenkraft mitgegeben – und diese gilt
es weise im Leben so einzuteilen, dass man damit gut bis zum letzten Atemzug auskommt.
Verbraucht man in jungen Jahren oder durch einen kräfteraubenden Lebensstil zu schnell zu viel
davon, wird sie irgendwann später fehlen. Haarausfall oder zu frühes Ergrauen sind Zeichen dafür.

Ein Haushalten mit dieser lebensnotwendigen Ressource sollte bewusst bedacht werden.
Ein schonender Umgang mit Ressourcen ist derzeit in aller Munde und geht sogar bisweilen in eine
radikale Richtung.
Aber wie sieht es mit unserer eigenen Ressource, der Lebenskraft aus?
Burnout, das Ausgebranntsein, ist nichts anderes als sich gänzlich seiner Energie beraubt zu haben.
Das Haushalten beginnt bei uns selbst.

In der Pflanzenheilkunde der “Alten” waren es die Widerthonkräuter, die das schnelle Altern durch
einen zu hohen Energieverbrauch, verzögern konnten. Bestimmte Farne und Moose standen in
unseren Breiten dafür in Verwendung.
Es sind unter anderem auch jene Pflanzen, welche die Nierenkraft anregen, das Fließen im Körper
fördern und dabei auch die Gifte herausschwemmen. Gleichzeitig waren es immer stark
haarwuchsfördernde Arzneien.

Das Prana, die Nierenkraft oder die Ios-Kraft, ist das Maß der Lebenszeit und es liegt am Lebewesen
selbst, ob es diese Kraft für oder gegen sein Dasein richtet.


Ein Kräftestau drückt sich in Schwäche und folglich in Krankheit aus. Ein gezieltes Fließenlassen kann
einen aus den Ufern geratenen Fluss wieder in seine Bahnen bringen.
Frühjahrskuren sind von jeher eine hilfreiche Unterstützung. Sie reinigen das Blut, die Säfte, und
bringen diese wieder ins Fließen.
Nichts anderes zeigt sich in der Natur. Wenn nach kalten, starren Wochen, das Saturnische
überwunden wird, die Bäume wieder in Saft gehen, wie es der Gärtner nennt, dann sind es gerade
diese Säfte wie der Birkensaft, der in Frühjahrskuren angewendet wird. Auch die frischen Triebe von
Brennnessel, Löwenzahn und anderen Frühlingskräutern spielen dabei eine wichtige Rolle.

Wir kennen auch die Gemmotherapie, die Heilkraft der Pflanzenknospen. Sie ist eine besondere
Form der Phytotherapie. Man verwendet Auszüge von Knospen und Triebspitzen, die reich an
pflanzlichen Wirkstoffen sind und eine embryonale, heilende Information in den Körper bringen.

Im Ayurveda haben wir die “Rasayanas” oder die Rasayanakur. Es ist eine Verjüngungskur, die durch
ausgewählte Rezepturen und Behandlungen aus Kräuterpasten und Ölen, kombiniert mit Massagen
und anderen Anwendungen, auch schon im alten Indien das Blut gereinigt und die Lebenskräfte
gefördert hat.
In allen großen Kulturen und Heilsystemen hat man schon immer die Natur als Vorbild genommen.
Im Grunde geht es einfach darum, die Lebenskraft- wie auch immer wir sie nennen wollen – in erster
Linie zu erhalten und nachhaltig zu stärken.


Schauen wir noch einmal auf das Samenkorn zurück.
Es hat die Geduld und Ausdauer, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.
Passen die Umstände, die Temperaturen, der Boden und der Standort, öffnet es sich durch den
Impuls der Ios-Kraft.
Mit Mut, Überzeugung und ohne Zögern, lässt es sich auf einen Neubeginn ein. Egal, was gestern war oder morgen sein wird. Keine Macht der Welt kann das unterbinden.
Dieser Trieb ist in allem Lebenden vorhanden – und genau das hält uns am Leben, und lässt uns immer wieder aufstehen.
Wir sollten viel mehr Wert und Vertrauen in diese Aufrichtekraft haben. Das Leben an sich ist gut
und will gut sein. Nehmen wir uns einmal mehr die Natur und ihre Pflanzenkinder zum Vorbild.
Wenn wir “zurückgestutzt” werden, können wir gestärkt daraus hervorgehen.
Haushalten wir mit unserer Nierenkraft, vergeuden wir sie nicht, als gäbe es kein Morgen mehr und
dennoch: das Leben will gelebt werden.

Alles Kranke will gesunden. Alles, was lebt, will auch weiterleben.
Das ist der Ruf des Lebens!

Dieser Artikel wurde für die Märzausgabe des „Heilspiegel“ von Horst Krohne geschrieben und veröffentlicht.

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3 Gedanken zu „Der Ruf des Lebens!

  1. Beim Lesen dieses Artikels öffnen sich nicht nur die Knospen der Pflanzen ,sondern auch mein Herz ❤ ….
    Danke dir
    Liebe Frühlingsgrüsse
    Daphne

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