Die Welt der Formen und Symbole. Das Yantra

In der tantrischen Lehre heißt es, dass alles was geworden ist, einem bestimmten Rhythmus unterliegt, seinen individuellen Klang hat und Farben und Formen eine wesentliche Rolle in dessen Ausdruck spielen. D.h. wiederum auch, dass das zum Ausdruck gebrachte beim Betrachter einen ganz bestimmter Eindruck hinterlässt.

„Yantras sind visuelle Meditationshilfen, die entweder der Zentrierung dienen oder in symbolischer Form die Struktur des Energiemusters wiedergeben, so wie tantrische Seher, Rishis, sie während ihrer Visionen wahrnahmen. Ein Yantra stellt daher eine archetypische Einheit dar, und so ist bereits das Malen eines solchen ein archetypischer Akt.“
Mit diesen Worten erklärt der Künstler und Gelehrte Harish Johari in seinem Buch „Wege zum Tantra“ den Einstieg in dieses komplexe Thema.
Ein Yantra kann aus unterschiedlichen geometrischen Formen, Klangsilben, abstrakten Symbolen und oft auch Zahlen bestehen. Wir wollen hier an dieser Stelle die Geometrischen näher betrachten.

Egal ob wir die Sprache bewusst verstehen oder nicht, ein Yantra drückt sich immer beim Betrachter auf seine ganz spezielle Art aus. Die Rishis hatten die Kunst des „Sehens“, Dinge und Eigenschaften auf ihre geometrische Form und dem dazugehörigen Klang, das Mantra, zu bringen.

Auch heute noch arbeiten die Tantriker mit dieser Art der Wissensübermittlung. Das Meditieren, also das Betrachten eines solchen Musters in Verbindung mit dem dazugehörigen Mantra (oft begleitet von Ritualen) soll genau diese Eigenschaften im Betrachter hervorbringen. Ein Wechselspiel zwischen Aus – und Eindruck.

Vor einiger Zeit bin ich in Indien, am Ufer des Ganges und am Tag vor einem großen Festival, damit in Berührung gekommen. Mein erstes Yantra war das universelle Sri Yantra, welches ich dort, durch das Zeichnen mit der Freihandmethode, das erste mal zu Papier brachte.
Der ganze Trubel der Festlichkeiten um mich herum, das Fließen des Ganges, alles schien still zu stehen und den Atem anzuhalten, während ich diese alten geometrischen Muster, Strich um Strich, entstehen ließ. Eine sehr prägende Erfahrung.

Das Sri Yantra, siehe Bild, projiziert das All, es ist eine Schautafel des kosmischen Evolutionsplanes und stellt den Schöpfungsvorgang von der Formlosigkeit zur Form und umgekehrt, dar.
So gibt es auch unterschiedliche Wege bzw. Richtungen es zu zeichnen. Zwei wesentliche sind von innen nach außen, der Evolutionsrichtung, oder umgekehrt, von außen nach innen, der Involutionsrichtung folgend.

Im Hause des anfänglich zitierten Harish Johari lebt man der tantrischen Überlieferung zufolge ganz nach dem Wirken der Planeten. Jeder Wochentag hat seinen Planten, dessen Yantra und seine dazugehörigen Rituale. Die Farben des jeweiligen Planeten, welche das jeweilige Yantra dominieren, spiegeln sich auch in Kleidung und Essen wider. Sogar die täglichen Tätigkeiten werden so gut wie möglich mit den Planetenqualitäten abgestimmt.

Der Tantriker möchte mit der Energie des Kosmos, des Himmels und seinen Himmelskörpern im Einklang schwingen. Ein wesentlicher Teil davon ist die Yantrameditation.

Die meisten geometrischen Yantra haben eines gemeinsam, den Punkt in der Mitte, den Bindu. Er bildet das Zentrum, von wo aus sich alles ausdehnt bzw. wohin sich alles auch wieder zurückzieht. Er ist das Wichtigste könnte man sagen, denn vom Bindu geht ein Pulsieren aus, entsteht Klang und jede Form von Dasein. Er ist der Ursprung, der Quell des Lebensflusses und gleichzeitig das Ziel, das große Delta dieses Flusses, wenn er schließlich zurück in die Einheit, in den Ozean mündet.

So heißt es: „ Ein schwarzer Punkt auf einem weißen Hintergrund stellt das klarste und mächtigste Yantra dar“

Wie das Herz, wenn es schlägt, Leben im Endlichen bedeutet, so bedeutet das ewige Pulsieren des Bindu, Leben im Großen, über die Grenzen unseres jetzigen Seins hinaus.

Der Punkt, als die erste Form, die auf der Oberfläche der Leerheit auftaucht (dargestellt im Zentrum des Sri Yantra), ist daher vollkommen transzendent, die Welt in ihrem Keimzustand, wenn die Kraft der Materie noch sehr rein ist. Er projiziert eine Schöpfungsebene, wo alle vereinten Energien des Universums schlafend daliegen. Ein Bereich der unendlichen Möglichkeiten.

In den meisten Yantras finden wir den Kreis als wiederkehrendes Symbol, das Viereck, welches Beständigkeit und eine gewisse Abgeschlossenheit sowie das Erdelement repräsentiert.
Dann das Dreieck mit seiner dynamischen Symbolik, das je nach Ausrichtung der Spitze nach oben oder unten zeigend, als männlich oder weiblich empfunden wird.
Sowie das kunstvolle Lotusblatt, selbst wenn man das Yantra mit Lineal und Zirkel zeichnet, wird dieses als einzige Form individuell, freihand gezeichnet und ermöglicht dabei dem Künstler einen Freiraum des persönlichen Ausdrucks.
Nach dem Motto:“ Zeige mir deine Lotusblätter, und ich sage dir wer du bist!“

Im oben erwähnten Sri Yantra spielen die beiden Dreiecke, welche sich abwechselnd nach oben und nach unten spiegeln, eine wesentliche Rolle.
Es drückt die Symbiose und Symphonie aus, welche in der weiblich-kinetischen und der männlich-statischen Kraft steckt.
Das Erkennen ihrer unterschiedlichen Kraft und das Zusammenspielen dieser Polaritäten ist das Spiel des Lebens, auch Lila genannt.

Shiva – Shakti und ihr ewiges Wirken, so wie es in der Lehre der Tantriker zu finden ist.

Den Spannungsbogen zwischen den Unterschieden von männlich und weiblich kann man nicht leugnen; das ganze Werden und Vergehen ist darauf aufgebaut und hat nichts mit den heutigen Auswüchsen der Suche nach Gleichberechtigung unter den Geschlechtern oder dem Genderwahn zu tun.

Himmel und Erde mögen so gegensätzlich sein, und doch berühren sie sich irgendwo in der Weite des Horizontes.

Jeder Herzschlag, jeder Pulsschlag erinnert uns an diese Rhythmik. Die Ausgewogenheit zweier Gegensätze bringt neues hervor, und der Ausgangspunkt ist der Bindu. Er ist die erste und kleinste sichtbare Ausdehnung im Raum/Zeitgefüge.

Bei der Yantrameditation richtet der Betrachter all seine Konzentration auf diesen Punkt der Einheit, und mit dem gleichzeitigen Wiederholen des dazugehörigen Mantra geht das Gesehene und Gehörte in Resonanz mit ihm. Ziel dieser Meditation ist das Wiedererkennen dieser vermittelten göttlichen Einheit in uns selbst. Das Erfahrene projiziert sich im Spiegel unseres Herzens und erkennt sich dort selbst wieder.

Das Arbeiten mit einem Yantra ist eines der wenigen Wege, wo man dem großen Geheimnissen unseres Daseins spielerisch auf die Spur kommt.

Das Zeichnen und spätere Ausmalen ermöglicht, uns dem Ausdruck und Einfluss zeitloser Kraftqualitäten zu nähern. Vorkenntnisse und Detailwissen sind dabei nicht unbedingt nötig, die Arbeit übt immer ihren Einfluss aus.
Ein leeres Blatt Papier, ein Stift und die anfänglich notwendige Vorlage, denn in der gesamte Komposition hat jede Linie, jeder Kreis seine Aufgabe, um das Bild so sprechen zu lassen, wie es die Rishis einst erkannt haben.

Wir finden diese Geometrie aber nicht nur bei den Tantrikern im Yantra, denn diese haben es selbst aus der Natur herausgelesen.

Gehen wir durch Wald und Flur, ohne uns dabei mit Ohrstöpseln und Mobiltelefon durch Fremdbeschallung taub und blind gegenüber der Sprache unserer unmittelbaren natürlichen Umgebung zu machen, können wir mit allen Sinnen diesen Reichtum an Ausdrücken wahrnehmen.

Jedes Blatt, jede Knospe, das Innere einer Walnuss oder eines Apfels, selbst die Schneeflocken und Eiskristalle, alle haben ihr Klangbild, ihre Geometrie mit welcher sie sich ausdrücken.

Auch der Wind trägt Informationen wie Geräusche und Düfte mit sich und hinterlässt ein Gefühl von Berührung auf unserer Haut.
Ich bin immer wieder fasziniert von der Vielfalt der Formen, Gestalten und Farben, welche sich in den kleinsten Details zeigen können.

Überall ist ein Yantra darin verborgen. Wie ein Kaleidoskop falten sie sich vor dem Auge des Betrachters auf, zeigen ihre Wirkung und gehen in Resonanz.

Das, was die Rishis einst vor vielen Zeitaltern „gesehen“ haben ist allgegenwärtig. Die göttliche Proportion, der goldene Schnitt spielen dabei eine wesentliche Rolle. Nur ein harmonischer Ausdruck in Klang und Bild kann diese Harmonie beim Betrachter hervorbringen.

Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit sind immer von Schönheit gezeichnet. Auch wenn die Tage jetzt dunkel, kalt und grau erscheinen mögen, die ausharrenden Knospen zeigen immer ihr Yantra, und der Klang der fallenden Schneeflocken hat seine Melodie. Alle zeigen uns ihre göttliche Harmonie und erinnern uns wiederum an unsere eigene Symphonie.

Gerade im Winter, wo das Außen nicht immer so einladend ist, können wir der Resonanz nach innen folgen und auf eine „Reise“ gehen, wie es vor uns schon die alten Weisen vergangener Zeitalter getan haben.

Dieser Artikel wurde in der 72. Heilspiegel-Ausgabe veröffentlicht.
Sri Yantra Painting by Sarah Tomlinson, sarahYantra.co

Du willst keinen neuen Blogeintrag verpassen?

Melde Dich hier an, damit Du automatisch verständigt wirst, wenn neue Beiträge veröffentlicht werden
Ich akzeptiere die Datenschutzbestimmungen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert