Eine herbstliche Poesie!

Das Zeitfenster schließt sich langsam. Der bunte Herbst und seine letzten Blätter werden bald gefallen sein.

Ich habe in meinem Garten mehrere Ginkgo Bäume stehen. Sie fallen gerade jetzt mit ihrer unglaublichen Dominanz und Goldfärbung auf. Von meinem Schreibtisch aus kann ich durch ein Fenster direkt auf einen weiblichen Ginkgo blicken. Es ist ein wunderschöner Anblick. Der tief blaue Himmel als Hintergrund bringt das Gelb besonders zum Strahlen. Die Blätter spielen mit dem Wind und diejenigen, die flügge geworden sind, wirbeln schwerelos durch die Lüfte.

Die Früchte, welche nur alte weibliche Exemplare hervorbringen, kann ich hier drinnen zum Glück nicht riechen, aber vor der Tür empfängt mich ein sehr eigenartiges Aroma. Buttersäure Duft!

Ich bin in Gedanken einem dieser Blätter gefolgt und habe seine Geschichte niedergeschrieben.

Die Wandlung eines Ginkgoblattes.

Gestern noch war ich ein Teil von etwas Großem. Obwohl ich nur einer von vielen war, hatte ich meine Aufgabe, welcher ich gern und mit großer Sorgfalt nachging. Gemeinsam mit unzähligen Gleichgesinnten fing ich jeden nur erdenklichen Sonnenschein ein und ließ diese Energie über meine Oberfläche durch die Nervenbahnen fließen.
Fest verankert, von sanftem Wind bewegt, manchmal aber auch von heftigen Sommergewittern und deren Stürmen hart geprüft, hielt ich an meiner Aufgabe fest.

Morgens war ich vom Tau benetzt, bis Sonne und Hitze des Tages mir die Feuchtigkeit entzogen. Ich habe es dabei Tag und Nacht werden sehen. Kein Tag war wie der vorige. Die Vögel bewohnten die Äste ringsum und sangen mir ihr Lied.

Ich erinnere mich sogar an jene Zeit, in der ich, gut umhüllt, in völliger Stille und Dunkelheit ausharren durfte. Da war auch dieser Impuls, der anfänglich ganz schwach und subtil begann, aber bald schon stärker und fordernder wurde.
Bis zu dem Moment, in dem sich meine Neugierde in tiefe Sehnsucht verwandelte und sich nichts und niemand dieser sich ausdehnenden Kraft in den Weg stellen konnte.
Das lange Warten, verpackt als Knospe, hatte sich gelohnt: Aus meinem Inneren heraus entfaltete sich mein neues Dasein. Hinein in eine Welt voller Licht und freudiger Erwartung.
Plötzlich war da Vielfalt; ich war umgeben von Gleichgesinnten, einer wie der andere, und doch jeder für sich einmalig. Wir alle hatten die schützende Hülle gesprengt; der Drang nach Bewegung und Ausdruck war übermächtig geworden.
Mit dieser Transformation wurde ich mir, einzigartig unter Vielen, meiner selbst bewußt. Formen, Farben und Umgebung – welche Vielfalt! Die Möglichkeiten, die sich zeigten, führten zu einer Art Rausch, aus dem heraus Neues geboren wurde: Es entstand Leben.

Ich trug fortan selbst zu diesem Wunder Leben bei. Nie konnten mich Schwäche oder Zweifel übermannen. Nicht einmal die großen Hagelkörner, die meinen Halt und meinen Willen prüften, änderten daran etwas; ich hielt durch, ich hielt fest.
Das war meine einzige Realität, die nie infrage gestellt wurde—bis gestern. Seit gestern ist alles anders. Ich habe meinen Halt verloren, musste aufgeben, so wie all die anderen mit mir.
Die Zeichen waren schon länger da: Das Sonnenlicht, das ich einfing, verlor seine Intensität und wurde goldiger, und mit ihm veränderte auch ich mich. Meine eigene Farbe wechselte von Grün zu leuchtendem Gelb. Vieles, das ich einst als wichtig und essenziell empfand, wurde plötzlich belanglos.

Auf einmal war der Augenblick gekommen, loszulassen. Es fühlte sich so richtig an. Frei wie die Vögel, die es mir schon immer vorzeigten, flog ich durch die Lüfte, getragen vom Wind, der mich seit Beginn meiner Tage bewegt und umspielt hatte.

Seit heute liege ich zu Füßen dessen, was mir ein Zuhause gab, mich hervorgebracht und getragen hat, mir Schutz, Zugehörigkeit und Daseinsberechtigung gab.

Da liege ich nun, zusammen mit all den anderen. Kahl und leer steht das Geäst, das einst mein Mittelpunkt war, über mir. Unzählige kleine Knospen sind jetzt dort deutlich zu erkennen, und eine Ahnung, eine Erinnerung steigt in mir auf.

Nun weiß ich, was meine letzte Aufgabe sein wird. Ich werde meinen Teil dazu beitragen, diesen Raum zu nähren und zu stärken und den Boden für meine Nachkommen bereiten: Als Dank für die gebotene Möglichkeit und für die Existenz dieser Äste, die mir das Sein ermöglicht haben. Auf diesem Weg kehre ich, wenn auch in verwandelter Form, an den Ort zurück, an dem ich geboren wurde.

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Auch Goethe hat sich über das Ginkgoblatt seine Gedanken gemacht. Er spricht darin die östliche Herkunft des Baumes an und weißt auf die gehirnstimulierende Wirkung der Blätter hin. Der Baum selbst ist ein altes, lebendes Relikt. Er markiert die Evolutionsschwelle zwischen Nadel – und Laubbaum, wobei er die zusammengewachsenen Nadeln als Blatt präsentiert.

Dieses Baumes Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?
Solche Fragen zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn.
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin?

Johann Wolfgang von Goethe 1815
(1749 – 1832)

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